Sozialismus: Sozialismus im 20. Jahrhundert

Sozialismus: Sozialismus im 20. Jahrhundert
Sozialismus: Sozialismus im 20. Jahrhundert
 
Deutungen und Definitionen
 
Wie bei den meisten Zeiten und Räume übergreifenden Begriffen ist auch der des Sozialismus durch eine große Zahl von unterschiedlichen Definitionen und Deutungen gekennzeichnet. Teilweise drückt sich diese Unterschiedlichkeit in Zusätzen und Beifügungen aus; insbesondere gilt dies für den Sozialismus im 20. Jahrhundert, wo sich der real existierende Sozialismus oder der Staatssozialismus sowjetischen Typs und der freiheitliche beziehungsweise demokratische Sozialismus einander ausschließend gegenüberstanden.
 
Dennoch kann der Begriff Sozialismus ganz allgemein verwendet werden, wenn man ihn zur Bezeichnung von Ideenwelten gebraucht, die dem mit den bürgerlichen Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert begonnenen Individualismus kritisch gegenüberstanden und zugleich die Emanzipation der Individuen durch eine solidarische gesellschaftliche Ordnung zu vollenden beanspruchten. Noch nicht im 19., wohl aber im 20. Jahrhundert schließt diese allgemeine Bestimmung aus, Spaltungen wie die in Kommunismus, demokratischen Sozialismus und Anarchismus oder Anarchosyndikalismus als innerhalb einer Bewegung verlaufend zu verstehen, die man noch im weitesten Sinne Sozialismus nennen könnte: Inhalte und Ziele schließen einander aus, und allenfalls lassen sich im weitesten Sinne noch Spuren gemeinsamer Ursprünge erkennen.
 
Sozialismus manifestierte sich auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in zwei Erscheinungsweisen: einmal als politische Ideenwelt, als soziale Utopie, als visionärer Entwurf, vor allem als politisch-ökonomische Theorie; zum anderen als gesellschaftsverändernde soziale Bewegung und politisch-organisatorische Kraft. Die organisatorischen Formen sind dabei — ungeachtet der Selbstkennzeichnungen — historisch betrachtet sehr unterschiedlich und vielfältig: Parteien, Bildungs- und Unterstützungsvereine, Berufsverbände und Gewerkschaften, Gilden, Gruppen, Genossenschaften. Zwar sind diese organisatorischen Formen in ihrer sozialen Bindung im 20. Jahrhundert vor allem Ergebnis der sozialen und politischen Selbstbefreiungsbemühungen der Industriearbeitermassen gewesen, aber auch bürgerliche Intellektuelle haben mit ihrer Entscheidung für den Sozialismus die Bewegung geprägt; Landarbeiter, Handwerker, kleine Bauern haben sich meist — besonders in Südeuropa — als Minoritäten den sozialistischen Bewegungen angeschlossen wie dann im Laufe des 20. Jahrhunderts teilweise auch technische Intelligenz und kaufmännische Angestellte sowie im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts »neue Mittelschichten« aus dem tertiären Beschäftigungssektor.
 
 Ursprünge und Phasen
 
Die jeweiligen Ausprägungen dessen, was in einem allgemeinen Verständnis dem Sozialismus als Ideenwelt und als soziale Bewegung zuzurechnen ist, sind an deutlich voneinander abgrenzbaren historischen Phasen erkennbar. Die Ursprünge des Sozialismus lassen sich als englisch-französisches Phänomen um 1830 orten, entstanden im Prozess der beginnenden Industrialisierung. Ihnen folgte eine Gründungsphase zwischen 1830 und 1864, die gekennzeichnet war durch eine Fülle von Ideen und Entwürfen für eine bessere andere Welt, als es die des frühen ungezügelten Kapitalismus war. Die zweite Phase lässt sich datieren auf die Zeit zwischen 1864 und 1914; sie wurde durch zwei zentrale Entwicklungen geprägt: einmal durch die Entstehung der großen Arbeiterparteien und Gewerkschaften und zum anderen durch die Hegemonie marxistischer Deutungen der Wirkungsweise des Kapitalismus und der Strategien zu seiner Überwindung in den meisten europäischen Ländern. Die dritte Phase umfasst die Zeit zwischen 1914 und 1945; es fällt in diese Zeit die theoretische und programmatische Herausbildung des demokratischen Sozialismus und seine Profilierung in schärfster Opposition zum revolutionären Marxismus oder leninistischen Kommunismus. Die vierte Phase beginnt 1945 mit der endgültigen Trennung des demokratischen Sozialismus vom Marxismus und der Öffnung für einen Pluralismus der Berufungs- und Begründungsmöglichkeiten und reicht bis zum Anfang der Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Seither wird mit dem Scheitern des real existierenden Sozialismus diskutiert, ob nunmehr auch der freiheitlich-demokratische Sozialismus an sein Ende gekommen ist und neue politisch-soziale Mischungen »jenseits von links und rechts« die dominanten politischen Kräfte in Europa werden könnten.
 
 Marxismus und Revisionismus
 
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts gab es ein breites Spektrum des Sozialismus als Ideenwelt in Europa. Als wohl am einflussreichsten galt der orthodoxe Marxismus, wie er vor allem von der deutschen Sozialdemokratie vertreten wurde. Er war gekennzeichnet durch eine Reihe von recht eigenwilligen und nicht immer stimmigen Berufungen auf marxsche Theoreme, die auf diese Weise immer mehr verengt wurden; zentrale Bezugspunkte waren die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft durch eine politische Revolution im Moment der ökonomischen Sozialisierungsreife der bürgerlich-kapitalistischen Macht- und Eigentumsverhältnisse. Das Leitbild der immer nur recht vage gezeichneten sozialistischen Zukunft war das vergesellschaftete Kollektiveigentum und dessen zentralistisch-bürokratische Überformung. Dies war weitgehend der sozialen Wirklichkeit der großindustriellen Strukturen geschuldet. Die Dominanz staatssozialistischer Konzeptionen hat dazu geführt, dass die genossenschaftlichen Utopien in der Tradition der deutschen Arbeiterbewegung zurückgedrängt wurden; dennoch bestand — namentlich in anderen europäischen Ländern — ein teilweise gleichgewichtiger Strang eines Assoziations-, das heißt Genossenschafts- und Selbstverwaltungssozialismus.
 
Wie eingeschränkt nur Sozialismus mit Marxismus, der seinerseits keinesfalls als fest gefügtes Denkgebäude oder geschlossene Theorie betrachtet werden kann, gleichgesetzt werden kann, zeigte der Revisionismus am Beginn des 20. Jahrhunderts. Ausgehend von einigen auf Marx' Aussagen bezogenen Annahmen über die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und der kapitalistischen Produktionsweise hatte Eduard Bernstein bereits vor der Jahrhundertwende abweichende Tendenzen und Trends festgestellt. Er konstatierte keine Fortsetzung der Klassenpolarisierung, kein Verschwinden der Mittelschichten, sondern vielmehr ihre Ergänzung durch neue städtische Dienstleistungsberufe, keinen absehbaren Zusammenbruch der kapitalistischen Wirtschaft und folglich auch keine revolutionäre Zuspitzung der gesellschaftlichen Beziehungen. Daraus zog Bernstein den Schluss, dass die Arbeiterbewegung ihre Transformationsstrategie auf eine graduelle Entwicklung einstellen müsse und dass unter der Voraussetzung der Fortentwicklung demokratischer politischer Verhältnisse ein Hineinwachsen in den Sozialismus vorstellbar geworden sei. Deshalb wandte er sich gegen ein »Endziel« in Gestalt spekulativer »genialer Vorwegnahmen der Zukunft«: »Dieses Ziel, was immer es sei, ist mir gar nichts, die Bewegung alles.« »Bewegung« — das war für ihn der soziale Fortschritt und der Kampf um ihn.
 
In dem genossenschaftliche und gewerkschaftliche Elemente und Kampfformen unterstreichenden Konzept des Sozialismus, wie ihn Bernstein vertrat, hatte die Demokratie einen zentralen Stellenwert: »Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus.« Zu Recht wird diese Aussage bis heute als Magna Charta des demokratischen Sozialismus verstanden.
 
Von den marxschen Methoden zur Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung hat sich Bernstein nie verabschiedet, wohl aber hat er die ethischen Grundlagen der kantschen Philosophie der marxistisch inspirierten Sichtweise vom zwingend notwendigen Geschichtsverlauf vorgezogen.
 
Eine Synthese von marxscher analytischer Methode und kantscher Erkenntniskritik charakterisierte auch den Austromarxismus, wie er von Max Adler (1873—1937) und Otto Bauer (1882—1938) vertreten wurde. Die historisch notwendige Form des Klassenkampfes mit dem Ziel der Transformation der kapitalistischen Gesellschaft betrachteten die Austromarxisten als einen Kampf um Wertungen, um höhere Vernunft, um höhere Moral, um vollkommenere Kultur. Den Marxismus verstanden sie als Wissenschaft, exakte Theorie von der Gesellschaft, die nichts aussage über die Inhalte des Wollens des Proletariats, das auf einer »sittlich begründeten Entscheidung« beruhe.
 
Obwohl in den wesentlichen theoretischen Fragen dem orthodoxen Marxismus zuzurechnen und von ihm zunächst nur in den strategischen Konzepten abweichend, entwickelte die Linksopposition, für deren theoretische Positionen vor allem Rosa Luxemburg stand, vor 1914 auf die europäische Ebene übergreifend ein eigenes Konzept. Die Auseinandersetzung mit dem Revisionismus und der zunehmenden Erstarrung des marxistischen Zentrums nach der Jahrhundertwende verdichtete sich zu einer eigenständigen alternativen Transformationsvorstellung. Nach ihr waren die andauernden und sich in ihrem Ausmaß verschärfenden Klassenkämpfe bereits ein Teil der revolutionären Endauseinandersetzung; die Form dieser Klassenkämpfe war nach Rosa Luxemburg der Massenstreik, »die Bewegungsweise der proletarischen Masse«, »wo die Arbeiterklasse sich selbst im Laufe des revolutionären Kampfes aufklären, sich selbst sammeln und sich selbst anführen muss«. Mit dieser Auffassung stand sie bereits seit 1904 im deutlichen Gegensatz zu Wladimir Iljitsch Lenin, für den die Revolution nicht das Produkt eines spontanen und unvorhersehbaren Prozesses war, sondern die Aufgabe einer »revolutionären Partei«.
 
 Sozialistische Ideenwelten in Europa
 
Bereits vor dem Revisionismus hatte sich in Großbritannien mit der 1884 gegründeten Fabian Society eine einflussreich werdende nichtmarxistische Version des Sozialismus herausgebildet, deren publizistische und intellektuelle Wortführer der Schriftsteller George Bernard Shaw und die Sozialwissenschaftler Beatrice und Sidney Webb wurden. Sie verstanden ihren Sozialismus als evolutionär, undoktrinär, pragmatisch, solidarisch und ethisch begründet. Dennoch wollten auch sie als scharfe Kritiker des kapitalistischen Systems dieses durch ein System der kollektiven Kontrolle der wichtigsten Produktionsmittel des gesellschaftlichen Reichtums ersetzen, aber auf dem evolutionären Weg über Reformen und Überzeugungsarbeit. Deshalb gewann die Demokratie in diesem Konzept eine überragende Bedeutung. Diese Vorstellungen hatten die 1900 gegründete Labour Party stark beeinflusst.
 
Deren Sozialismusvorstellungen blieben bis weit ins 20. Jahrhundert hinein pluralistisch geprägt; neben den Fabiern spielten auch genossenschaftliche Sozialformen und Utopien, der Gildensozialismus — mit seiner unter anderem von William Morris künstlerisch inspirierten Rückwendung zu den alten Zünften und dem redlichen Handwerk — eine Rolle ebenso wie christlich-soziale Einflüsse. Auch in den Niederlanden, in den skandinavischen Ländern und in Belgien wurden dezentrale Modelle der Selbstverwaltung und Mitbestimmung in das Sozialismusverständnis aufgenommen.
 
Auch in der sozialistischen Bewegung Frankreichs fanden sich marxistische, anarchistische, liberal-reformistische und aus den republikanisch-revolutionären Traditionen sich speisende, undogmatisch pluralistische Auffassungen gleichermaßen. Diese verschiedenen Elemente hat der französische Sozialist Jean Jaurès zur Synthese zu bringen versucht; er nannte sein Konzept »revolutionäre Evolution«. Er plädierte gleichzeitig für den friedlichen, legalen Weg der Durchsetzung von Reformen und der Eroberung der politischen Macht durch das arbeitende Volk; der Staat sollte schrittweise und mithilfe des allgemeinen Wahlrechts zu einem Organ des proletarischen Mehrheitswillens werden; nur im Notfall sollte das arbeitende Volk auch zu äußersten Mitteln wie dem Massenstreik greifen, beispielsweise als Waffe gegen den Krieg.
 
In den industriell weniger entwickelten, autoritär regierten Ländern Südeuropas und zum Teil auch in Russland hatte der vor allem auf Michail Bakunin zurückgehende libertäre Anarchismus — teilweise in Verbindung mit dem Syndikalismus — sein Einzugsfeld. Im Allgemeinen wird zur Charakterisierung des Anarchismus auf seinen staatsverneinenden Charakter, seine Ablehnung des Zentralismus und Autoritarismus innerhalb der Arbeiterbewegung und weiterhin auf deren Tendenz zum Staatssozialismus hingewiesen. Tatsächlich werden von den Anarchisten Eigentum, Staat und Recht als Herrschaftsmittel und damit als verderbliche Einrichtungen angesehen; aber die anarchistische Grundeinstellung zielt auf die Wiederherstellung der natürlichen vernünftigen Ordnung der Gesellschaft, die auf einer freien Übereinkunft der Individuen beruht. Danach soll an die Stelle des Staates eine lose Föderation von Gemeinde- und Produktionsverbänden treten, zu denen sich die freien Individuen zusammenschließen.
 
Die Trennung von Anarchismus und Sozialismus erfolgte bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die entscheidende Differenz lag darin, dass Sozialisten aller Spielarten zwar ebenfalls den Staat als Instrument der Klassenherrschaft bekämpften und den Klassencharakter der Herrschaft aufheben wollten, demokratische Herrschaftsformen aber als gesellschaftliche Ordnungsfaktoren für unverzichtbar hielten.
 
Im Rahmen der Bemühungen um eine katholische Lösung der sozialen Frage gab es im Lager des deutschen Katholizismus Ende des 19. Jahrhunderts bereits Anstrengungen, die katholische Kapitalismuskritik und den grundsätzlichen Gegensatz zum Wirtschaftsliberalismus zu einem gesellschaftlichen Reformkonzept zu erweitern. Ansätze zu einem christlichen Sozialismus fanden jedoch keine Akzeptanz, wenn auch die katholischen Arbeitervereine und später die christlichen Gewerkschaften erst gefördert und dann geduldet wurden. An die Stelle einer Gesellschaftsreform trat nämlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Forderung nach einer Sozialpolitik, die sich auf den Boden der bestehenden industriekapitalistischen Verhältnisse stellte und als deren Aufgabe es angesehen wurde, die Entartungen der nunmehr prinzipiell akzeptierten kapitalistischen Produktionsweise zu bekämpfen.
 
 Reformismus und Syndikalismus
 
Die vorgestellten Ideenwelten waren zumeist an soziale Bewegungen oder Gruppen gebunden, in deren Rahmen sie, um Handlungsrelevanz zu gewinnen, zu politisch-strategischen Entwürfen umgeformt oder erweitert wurden. Das erfolgreichste und wirkungsvollste Modell in dieser Hinsicht war der Reformismus, der historisch ebenfalls in vielen Varianten auftrat. Grundsätzlich lehnte er die revolutionäre Umwälzung der Gesellschaft als letztes Mittel, als der Arbeiterklasse aufgezwungen, nicht ab; als das erfolgversprechendste Mittel der Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse wurden aber soziale Reformen angesehen. Diese Reformarbeit konnte theoretisch reflektiert sein — so verstand sich die deutsche Sozialdemokratie vor 1914 als eine revolutionäre, aber nicht Revolution machende Partei; die Austromarxisten hingegen begründeten ihre militant-reformistische Strategie mit der Formel, dass bereits der bestehenden Gesellschaft in der Form der alternativen Projekte der Arbeiterbewegung ein »Sozialismus im Werden« eigen sei. Unter den französischen Sozialisten gab es eine Strömung, die sich für den ausschließlich parlamentarischen Weg zum Sozialismus aussprach und nach dem ersten sozialistischen Minister in einem bürgerlichen Kabinett — Alexandre Étienne Millerand im Jahre 1899 — als Millerandismus bezeichnet wird.
 
Es bestanden in der europäischen Arbeiterbewegung jedoch auch Strömungen, die jede theorieorientierte Zukunftsdiskussion für überflüssig hielten und ganz praxisbezogen für die konkrete Verbesserung der Lebensverhältnisse der Arbeiter jetzt und heute eintraten. Gegen diesen trade unionism gerichtet war die Strategie der revolutionären Transformation, von der zwei Varianten historische Bedeutung gewonnen haben. Rosa Luxemburg verstand unter dem »Hammerschlag der Revolution« die andauernde Folge von Klassenkämpfen, deren Form die Arbeiter selbst bestimmen — die zukünftige sozialistische Gesellschaft blieb noch in der Geschichte verborgen, weil sie aus dem schöpferischen Willen der Massen heraus entstehen würde. Immerhin erschienen ihr Massenstreiks und Arbeiterräte die dominanten Formen der Bewegung der Massen. Lenin hat demgegenüber als Reflex auf die noch unentwickelten Verhältnisse im russischen Zarenreich diese »Spontaneität« abgelehnt und auf streng hierarchischen Zentralismus und eine Organisationsstruktur gesetzt, die dem Aufbau einer regulären Armee glich und von professionellen revolutionären Kadern geführt wurde.
 
Auch der Syndikalismus, oft verknüpft mit anarchistischen Ideen, hat sich als eine von den Arbeitern selbst ausgehende Gegenbewegung gegen den Reformismus verstanden. Seine Hauptwirkungszeit lag vor dem Ersten Weltkrieg; seine geographischen Schwerpunkte hatte er in den romanischen Ländern. Ausgangspunkt für den Syndikalismus ist die gewerkschaftliche Organisierung; parlamentarische Reformarbeit wird abgelehnt, stattdessen will man die action directe: Streik, Boykott, Sabotage, Fabrikbesetzungen. Die künftige Organisation einer proletarischen Wirtschaft sollen die Syndikate bilden: Die Betriebe gehen in die Selbstverwaltung der Arbeiter über und werden durch lose Produktionsverbände miteinander verbunden.
 
 Die Auseinandersetzung mit Kommunismus und Faschismus
 
Die dritte Entwicklungsphase war an ihrem Beginn durch Zäsuren geprägt, die das ganze weitere 20. Jahrhundert bestimmten: den Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914, die Revolution in Russland 1917 und die weiteren revolutionären Bewegungen in einigen europäischen Ländern zwischen 1918 und 1920. Der von Lenin eingeleitete Bruch der Bolschewiki mit der sozialdemokratischen Tradition der europäischen Arbeiterbewegung war zwar bereits vor 1914 erfolgt, aber nun nach 1917 etablierte sich der Kommunismus als ein totales gesellschaftliches System der bürokratisch-terroristischen Herrschaft, das in einem absoluten Gegensatz zu allen Formen der sozialistischen Tradition stand, auch der marxistisch-sozialistischen.
 
In der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus gewann der demokratische Sozialismus sein unverwechselbares theoretisches Profil; dieser Prozess begann in den frühen Zwanzigerjahren und fand seinen Abschluss 1951 in der Prinzipienerklärung der wieder gegründeten Sozialistischen Internationale. Demokratischer Sozialismus — das war kein geschlossenes Theoriegebäude, sondern ein Konglomerat von regulativen Prinzipien. Dazu gehörten die Auffassung vom »Hineinwachsen« in den Sozialismus und die Hochschätzung der Bedeutung des parlamentarisch-demokratischen Staats für diesen Prozess. Allerdings wurde »Demokratie« im Wesentlichen mit dem liberalen, repräsentativ-pluralistischen Rechtsstaat identifiziert unter Vernachlässigung direktdemokratischer Elemente aus der sozialistischen Tradition; dies war ein Ergebnis der fundamentalen Auseinandersetzung mit dem stalinistischen Kommunismus. Seit Mitte der Zwanzigerjahre gab es dann auch Ansätze zu einer Erweiterung beziehungsweise Ergänzung der politischen durch die soziale Demokratie; so sah das Konzept der Wirtschaftsdemokratie die Beteiligung der Arbeiter an der Gestaltung der Produktionsbedingungen vor. Nachgedacht wurde auch über den Anteil an der kommunalen Neugestaltung; Beiträge zu Wohnungsbau, Sportstätten, kulturellen Einrichtungen, Volksbüchereien, Verkehrsausbau wurden zum Konzept des »Kommunalsozialismus« zusammengefügt, für das das »Rote Wien« prototypisch war.
 
Die Krise der demokratischen Institutionen am Ende der Weimarer Republik gab in Deutschland Anlass zum Überdenken der Fixierung auf die parlamentarisch-repräsentative Verfassung. Auch wurde erstmals, befreit von Emotionen, theoretisch anspruchsvoll das Verhältnis der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zur Nation diskutiert; jedoch gelang es nicht nur in Deutschland nicht, den alten Gegensatz zwischen der Bindung an Vaterland, Volk und Nation und der Identifikation mit den »Proletariern aller Länder« in einer realitätsdeckenden Synthese aufzuheben.
 
Spirituelle Anregungen für eine Erweiterung oder Vertiefung des demokratischen Sozialismus kamen aus kleinen Kreisen der protestantischen Theologie in der Schweiz und in Deutschland, unter anderem von Paul Tillich; diese religiösen Sozialisten verstanden die kämpferischen Bestrebungen des Proletariats als Ausdruck einer eschatologischen Religiosität. Die Kirche und die aktive Politik interessierte sie kaum; sie bemühten sich um die religiöse, nicht konfessionsgebundene »Vertiefung des Sozialismus«, um ihn zu seinem »wahren Selbstverständnis« zu führen.
 
Beachtliche intellektuelle Anstrengungen wurden gemacht, mit Marx über Marx hinaus zu gelangen, das heißt, dessen Methodik und Denkergebnisse auf neue Zeitverhältnisse anzuwenden. Imperialismustheoretiker wie Rosa Luxemburg, Rudolf Hilferding und Fritz Sternberg unternahmen es, die globale Expansion des Kapitalismus und die Konsequenzen der existenziellen Grenzverschiebungen der kapitalistischen Produktionsverhältnisse für die Transformation des Kapitalismus in den Sozialismus zu interpretieren und eine neue Strategie der internationalen Arbeiterklasse zu entwerfen, die erneute Kriege und einen vorauszusehenden »Absturz in die Barbarei« verhindern sollte. György Lukács und Karl Korsch bemühten sich um eine Rückführung des dogmatisch erstarrenden Leninismus und der marxistischen Orthodoxie der europäischen sozialistischen Arbeiterbewegung auf marxsche Kategorien. Ernst Bloch zeigte die bereits von Marx zum Thema gemachte zeitbestimmende explosive Widersprüchlichkeit beziehungsweise Ungleichzeitigkeit zwischen Sein und Bewusstsein, zwischen entfalteten kapitalistischen Produktionsverhältnissen und vorkapitalistischen Ideologien auf. Realanalytisch ausgelegte Faschismusdeutungen wie die von August Thalheimer und Fritz Sternberg widmeten sich den Zusammenhängen von entfalteter kapitalistischer Produktionsweise und dem Aufstieg des Faschismus in Europa. Alle diese marxistisch geprägten Intellektuellen verstanden sich als geistige Vermittler zwischen links positioniertem demokratischem Sozialismus und im marxschen Denken verankertem Kommunismus — eine Position, die spätestens mit den stalinschen Säuberungen in der Sowjetunion und der Rolle der Sowjetunion im Spanischen Bürgerkrieg Mitte der Dreissigerjahre überholt war. Das von vielen gelobte »Vaterland aller Werktätigen« war für die meisten dieser kritischen Marxisten gemessen an den Aufgaben der internationalen Arbeiterbewegung nur noch eine »reaktionäre Macht«.
 
 
1945, nach der Überwindung der nationalsozialistischen terroristischen Diktatur über große Teile Europas, erschien es fast überall fraglos, dass nunmehr der demokratische Sozialismus die neue Epoche einer friedlichen und solidarischen Welt gestalten würde. Sozialismus war die Gegenwartsaufgabe und in vielfältigen Formen war von ihm die Rede: vom freien, freiheitlichen, christlichen und von einem demokratischen Sozialismus, der kein in sich abgeschlossenes System von Vorstellungen über die Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse sein sollte, sondern die Summe gemeinsamer grundsätzlicher Überzeugungen.
 
Modelle boten sich an: das »Volksheim Schweden«, in das das Armenhaus Europas innerhalb weniger Jahrzehnte verwandelt worden war. Ohne theoretische Überfrachtung hatten die schwedischen Sozialdemokraten in den Zwanzigerjahren einen Mittelweg zwischen Kapitalismus und dogmatischem Sozialismus eingeschlagen; das Ergebnis war ein demokratischer Wohlfahrtsstaat in einer Gesellschaft mit einem hohen Grad an Gleichheit und solidarischen Verhaltensformen. Weniger erfolgreich blieben die Labour-Sozialisten, als sie 1945 die Chance zur Gestaltung des nachimperialistischen Großbritannien erhielten: Entgegen der Tradition setzten sie auf Verstaatlichung, Planung, Zentralisierung und Regulierung. Gerade in der verstaatlichten Industrie blieb aber der Grad der Mitwirkung der Produzenten unbefriedigend, und sechs Jahre der Herrschaft der Labour Party reichten gerade dazu aus, wichtige wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen auf den Weg zu bringen, die die nachfolgenden konservativen Regierungen zunächst nicht eliminierten.
 
In der westdeutschen Diskussion kristallisierte sich ein Modell des demokratischen Sozialismus heraus, das stark eklektizistische Züge trug: Reste von Marx' Methode der Funktionsanalyse des Kapitalismus, John Maynard Keynes' wohlfahrtsstaatlich ausgerichteter sozialer Liberalismus, auf Immanuel Kant und den frühen Marx gegründeter ethischer Sozialismus. Inhaltlich bedeutete dies die Akzeptanz der Marktwirtschaft und den Abschied von der Planwirtschaft — nur in stark monopolisierten Branchen war noch eine beschränkte Vergesellschaftung vorgesehen. Dennoch sollte die liberale Marktwirtschaft in eine sozialistische umgeformt werden: durch demokratisch herbeigeführte Rahmenplanung, Investitionskontrolle, betriebliche und überbetriebliche Mitbestimmung und einen sozialen Rechtsstaat, der als Sachwalter des Allgemeininteresses wirkte. Eine große Rolle in diesem Konzept des demokratischen Sozialismus spielten Bildung, Humanisierung der Arbeit und ihr Verständnis als nicht entfremdete schöpferische Betätigung.
 
Als zentrales Schlüsseldokument dieser Neubestimmung der Konturen des demokratischen Sozialismus gilt das Godesberger Programm der deutschen Sozialdemokratie aus dem Jahre 1959. Es wurde zum Leitwert für die Reformierung der meisten sozialdemokratischen Parteien Europas. Als die französischen Sozialisten in den Siebzigerjahren ihr »sozialistisches Projekt« als ein neues Modell des demokratischen Sozialismus vorstellten, zeigte es sich, dass es inhaltlich nichts Neues bot und vor allem als Aktionsprogramm für die Machtübernahme einer sozialistischen Partei in einem ökonomisch hoch entwickelten europäischen Land betrachtet werden konnte.
 
Zur gleichen Zeit haben die deutschen Sozialdemokraten begonnen, auf der Grundlage des gelenkten Wachstums eine Stabilisierung des klassischen Sozialstaats zu verknüpfen mit der »ökologischen Frage«, der Verschleuderung der Ressourcen, für ein würdiges Überleben von Mensch, Tier und Natur auf dem »blauen Planeten« Erde. Das Berliner Programm von 1989 spiegelt den Versuch wider, dieses schwierige Problemdreieck — Ökonomie, Sozialstaat, Ökologie — auf einen politisch handhabbaren Nenner zu bringen.
 
In den Siebzigerjahren galt die britische Labour Party als europäisches Schlusslicht bei dem Bemühen um eine strukturelle Modernisierung. Erst Ende der Achtzigerjahre war abzusehen, dass es der Partei gelingen könnte, über eine einfache Godesbergianisierung hinaus den großen Sprung nach vorn, zur klassenunspezifischen, den neuen Mittelschichten sich öffnenden New Labour zu schaffen.
 
Es gibt eine Partei, die bereits über die Positionen von New Labour hinausgelangt ist: die aus der legendären italienischen Kommunistischen Partei hervorgegangene »Partei der demokratischen Linken«. Sie ist inzwischen längst über den Status einer gewöhnlichen sozialdemokratischen Partei hinaus und bietet das Bild eines radikaldemokratischen, sozialliberalen, mit linkskatholischen Elementen versetzten linken Bündnisses.
 
 Gescheiterter Reformkommunismus
 
Zur Bestandsanalyse des Sozialismus gehört, wie das erwähnte Beispiel der italienischen Kommunistischen Partei zeigt, das Scheitern des Reformkommunismus, der innerhalb der Traditionen des sowjetischen Kommunismus grundlegende Reformen dieses Systems anstrebte. Seit den Abspaltungen der kommunistischen Parteien von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in Europa nach 1917 flammten zu verschiedenen Zeiten — vor und nach dem Faschismus — Hoffnungen auf, dass durch die Wiederbelebung der demokratischen Traditionen der Kommunismus gewissermaßen resozialdemokratisiert werden könne, die radikaldemokratischen Bezüge der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zu einer neuen, »wahren« Form der Arbeiterdemokratie zusammengefügt werden könnten, ja, die Spaltungen in der europäischen Arbeiterbewegung durch eine Vereinigung von Sozialisten beziehungsweise Sozialdemokraten und Kommunisten, weil historisch überflüssig, aufgehoben werden könnten.
 
Die Bemühungen um eine kritische Revision und eine Erneuerung des sowjetischen Modells des »rohen Kommunismus« oder — wie es auch bezeichnet wird — des bürokratisch-terroristischen Staatssozialismus scheiterten auf zum Teil tragische Weise: 1953 scheiterte der Aufstand erst der Arbeiter, dann 1956 der der Intellektuellen in der DDR, aber auch Robert Havemann in den Siebzigerjahren, der mit breiter intellektueller Unterstützung das Projekt der »Vollendung der sozialistischen Revolution« durch die Schaffung einer wahrhaft demokratischen Ordnung vertrat. Es scheiterte der variantenreich sich zwischen 1956 und 1980 äußernde Poststalinismus in Polen; die durch einen Volksaufstand 1956 auf den Weg gebrachte Liberalisierung in Ungarn endete für Jahrzehnte in einer Restalinisierung; mit dem gewaltsamen Ende des Prager Frühlings 1968, der eine pluralistische sozialistische Demokratie zu errichten suchte, wurden alle Hoffnungen auf eine umfassende Umwandlung des Sowjetkommunismus in ein demokratisch-sozialistisches Modell zerstört.
 
Der marxistisch-leninistische Kommunismus, der sich selbst anmaßend als real existierender Sozialismus bezeichnete, ist bis auf wenige Reste — Kuba und Nordkorea — zusammengebrochen. In den Ländern der Dritten Welt beziehungsweise außerhalb Europas hatte der Kommunismus ohnehin nur eine seine Existenz verlängernde Chance durch seine Bindung an die nationalen Befreiungsbewegungen. Im Fernen Osten ist es den chinesischen Kommunisten gelungen, ihre Unabhängigkeitsbestrebungen mit den Interessen der bäuerlichen Bevölkerung in Übereinstimmung zu bringen. Seither versucht das kommunistische Regime, die ökonomische Modernisierung und ihre sozialen Folgen durch politische Unterdrückung und ideologische Indoktrination zu zügeln — das Ende ist als offen zu bezeichnen.
 
 Eurokommunismus ohne Chance
 
Gescheitert ist ebenfalls die westliche Variante des Reformkommunismus, der Eurokommunismus in den südeuropäischen Ländern. Zwar haben die eurokommunistischen Parteien sich von der marxistisch-leninistischen Revolutionsstrategie verabschiedet und sich einem Konzept des graduellen Systemwandels der kapitalistischen Demokratien verschrieben. Aber dies führte entweder zu einer Marginalisierung der kommunistischen Parteien — in Spanien, Frankreich und Portugal — oder zur Mutation in die Richtung einer liberal-demokratischen Linken. Der Eurokommunismus als reformkommunistisches Konzept kam über den Zustand eines Experiments, das ohne Realisierungschance blieb, nicht hinaus.
 
Noch nicht sehr eindeutig lässt sich demgegenüber der Stellenwert der neuen sozialen Bewegungen und der durch sie transportierten sozialen Inhalte bestimmen. In allen entwickelten kapitalistischen Ländern gibt es sie seit den Sechzigerjahren mit den Schwerpunkten Studentenbewegung, Frauenbewegung, Friedensbewegung, ökologischer Protest. Meist gruppenbezogen arbeitend vermitteln sich die Akteure einander durch literarische Texte, Symbole, Lebensstile, Habitus und Outfit. Statt mehr oder weniger fest gefügter Theorien oder zumindest Programme stellen sie sich durch einen Pluralismus sozialer Ideen dar, in denen die Wiederkehr des Utopischen und eine teilweise überbordende subjektive Betroffenheit eine große Rolle spielen; charakteristisch ist vielfach auch die negative Grenzziehung zur Arbeiterbewegung und ihrer Geschichte. Fasst man die Vorstellungen zusammen, so lässt sich von einer Zivilisations- und Modernisierungskritik sprechen, die ihrerseits nun aber gerade auf dem Boden der Moderne und ihren Freiheits- und Selbstbestimmungspostulaten steht. Die Tendenz der neuen sozialen Bewegungen zur Selbstorganisation sowie zur Bildung von Netzwerken zur Findung und Wahrung kollektiver Identität sowie die geringe organisatorische Verfestigung verweisen auf subjektorientierte anarchistisch-libertäre Züge und kaum auf sozialistische.
 
Da die neuen sozialen Bewegungen in den Sechzigerjahren gerade aus den USA enorme Anstöße erhielten, wird verständlich, warum die USA ein Land mit (gewerkschaftlicher) Arbeiterbewegung, aber ohne Sozialismus geblieben sind. Vielleicht gerade deshalb sind aus den USA dann in den Siebzigerjahren besonders durch Michael Harrington bemerkenswerte Anstöße zu einer utopisch-visionären Renovierung des Sozialismus gekommen. »Was der Sozialismus schließlich zu bieten hat, ist die Vision des Sozialismus.« Sozialismus werde in idealer Gestalt niemals Wirklichkeit, schreibt Harrington, jedoch sei es wichtig, »dass wir uns den traumhaften Endzustand genau ausmalen, denn nur so werden wir imstande sein, Entwürfe zu machen, die ihm zumindest nahe kommen«.
 
 Was bleibt vom Sozialismus?
 
Bereits lange vor dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus stellte sich für das Ende des Jahrhunderts die Frage »Was bleibt vom Sozialismus?« — unter der Voraussetzung, dass man Sozialismus in einer Tradition stehend sah, in der er sich als »die Entfaltung einer freien und von Grund auf humanen Gesellschaft verstand, die mit dem Kapitalismus zugleich auch die der Klassengesellschaft eigenen Formen — staatlich und bürokratisch institutionalisierter — sozialer Entfremdung überwinden sollte«, wie es der Politikwissenschaftler Ignacio Sotelo formulierte.
 
Erst recht nach 1989/90 schien evident, dass mit dem »Triumph« des Kapitalismus das »Ende des Sozialismus« gekommen war, ein »Zeitalter«, das das »sozialdemokratische« genannt worden ist, unwiderruflich zu Ende ging. Diese Beurteilung beruhte auf einer Beweisführung, die völlig unzutreffend den Sowjetkommunismus und seine Wirtschaftsweise und Herrschaftsform »dem« Sozialismus zurechnete, anstatt die bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts erkennbare Trennung zweier Strömungen — Sozialismus und Kommunismus —, die ursprunghaft aus den gleichen Quellen schöpften, zur Kenntnis zu nehmen.
 
So wird denn auch von Vertretern des demokratischen Sozialismus geltend gemacht, dass spätestens seit den Zwanzigerjahren des Jahrhunderts strikt die unterscheidenden Konsequenzen gegenüber dem Kommunismus und dem Sowjetsystem gezogen worden sind: Sozialismus ist kein geschlossenes System, keine bloße Vision, keine gefährlich verlockende Utopie, auch keine historische Notwendigkeit, aber ein geschichtlicher Sinnhorizont und ein alternatives, regulatives Prinzip gegenüber dem real existierenden Kapitalismus. Aus einer solchen Sicht ist es durchaus möglich, wie der britische Historiker Eric Hobsbawm, selbst ein Sozialist aus der marxistischen Tradition, formuliert hat, »dass die Debatte, die den Kapitalismus und den Sozialismus als sich gegenseitig ausschließende, konträre Gegensätze darstellte, von zukünftigen Generationen nur als Relikt der ideologischen kalten Religionskriege des 20. Jahrhunderts gesehen wird«.
 
Prof. Dr. Helga Grebing
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Marxismus: Historische Entwicklung
 
 
Geschichte des Sozialismus, herausgegeben von Jacques Droz. Unter Mitarbeit von François Bédarida u. a. 17 Bände. Aus dem Französischen. Frankfurt am Main u. a. 1974-84.
 Grebing, Helga: Die deutsche Arbeiterbewegung zwischen Revolution, Reform und Etatismus. Mannheim u. a. 1993.
 Harrington, Michael: Sozialismus. Aus dem Amerikanischen. Stuttgart u. a. 1975.
 Hobsbawm, Eric J.: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aus dem Englischen. Taschenbuchausgabe München 1998.
 Jaurès, Jean: Die Ursprünge des Sozialismus in Deutschland. Luther, Kant, Fichte und Hegel, übersetzt von Erika Höhnisch und Klaus Sonnendecker. Frankfurt am Main u. a.1974.
 
Klassiker des Sozialismus, herausgegeben von Walter Euchner. 2 Bände. München 1991.
 Lenin, Vladimir I.: Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung. Aus dem Russischen. Berlin-Ost 211988.
 
Lexikon des Sozialismus, herausgegeben von Thomas Meyer u. a. Köln 1986.
 Luxemburg, Rosa: Politische Schriften, herausgegeben von Ossip K. Flechtheim. Frankfurt am Main 1987.
 
Der Marxismus. Seine Geschichte in Dokumenten. Philosophie, Ideologie, Ökonomie, Soziologie, Politik, herausgegeben von Iring Fetscher. München u. a. 51989.
 
Pipers Handbuch der politischen Ideen, herausgegeben von Iring Fetscher und Herfried Münkler. Band 4 und 5. München u. a. 1986-87.
 
Prinzipienerklärung der Sozialistischen Internationale, in: Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, herausgegeben von Dieter Dowe u. a. Berlin u. a. 31990.
 
Der Socialismus in England. Geschildert von englischen Socialisten, herausgegeben von Sidney Webb. Aus dem Englischen. Göttingen 1898.

Universal-Lexikon. 2012.

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  • Sozialismus — Der Sozialismus ist eine der im 19. Jahrhundert entstandenen drei großen politischen Ideologien neben dem Liberalismus und Konservatismus. Der Begriff war nie eindeutig definiert und umfasst die Breite Palette von Anarchismus über… …   Deutsch Wikipedia

  • Sozialismus — (hierzu Tafel »Sozialisten I u. II«), im weitern Sinn alle Bestrebungen, die eine Beseitigung der in der Gesellschaft herrschenden Klassenunterschiede bezwecken, im engern modernen Sinne dasjenige volkswirtschaftliche System, welches das… …   Meyers Großes Konversations-Lexikon

  • Sozialismus — Marxismus Leninismus; Bolschewismus; Stalinismus; Maoismus; Planwirtschaft; Staatskapitalismus; Kommunismus * * * So|zi|a|lis|mus [zots̮i̯a lɪsmʊs], der; : politische Lehre und darauf beruhende Richtung oder Bewegung, die den gesellschaftlichen… …   Universal-Lexikon

  • Sozialismus in einem Land — Der Sozialismus in einem Land war eine Doktrin Stalins und wurde in den 1930er Jahren zur Staatsdoktrin der Sowjetunion erhoben. Stalin berief sich in seiner Rede, in der er das neue Programm bekannt gab, auf einen Artikel von Lenin aus dem Jahr… …   Deutsch Wikipedia

  • Freiheitlicher Sozialismus — Der Sozialismus ist eine der im 19. Jahrhundert entstandenen drei großen politischen Ideologien neben dem Liberalismus und Konservatismus. Der Begriff war nie eindeutig definiert, und umfasst von Parlamentarismus und Demokratie akzeptierenden… …   Deutsch Wikipedia

  • Revolutionärer Sozialismus — Der Sozialismus ist eine der im 19. Jahrhundert entstandenen drei großen politischen Ideologien neben dem Liberalismus und Konservatismus. Der Begriff war nie eindeutig definiert, und umfasst von Parlamentarismus und Demokratie akzeptierenden… …   Deutsch Wikipedia

  • Demokratischer Sozialismus — Der Demokratische Sozialismus ist eine politische Zielvorstellung, die Demokratie und Sozialismus als untrennbare Einheit betrachtet oder vereinen will. Sie wurde in der Sozialdemokratie seit der russischen Oktoberrevolution 1917 entwickelt, um… …   Deutsch Wikipedia

  • demokratischer Sozialismus — demokratischer Sozialịsmus,   eine Richtung innerhalb des Sozialismus.   Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:   Sozialismus: Sozialismus im 20. Jahrhundert   …   Universal-Lexikon

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